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Industrielle Automation 3/2016

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Industrielle Automation 3/2016

SENSOR+TEST

SENSOR+TEST 2016 Nah an der Wirklichkeit Mit optischer Multisensorik dynamisches Betriebsverhalten untersuchen Jörg Sauer Wenn Schwingungen unter Betriebsbedingungen gemessen werden sollen, sind die Anforderungen an die Messsysteme besonders hoch. Abhilfe schafft hier die optische Multisensorik. Mit ihr lassen sich auch unter schwierigen Bedingungen unwiederbringliche Momente berührungslos und flächenhaft erfassen. Zudem ermöglicht das laserbasierte System mit 48 individuell einstellbaren faseroptischen Sensoren eine synchrone Messung aus allen Perspektiven. Jörg Sauer, Redaktionsbüro Stutensee Zuverlässigkeit und eine einfache Handhabung gelten als übliche Erwartungshaltung an gute Produkte, ob nun beim Anlagenbau oder für Alltagsgegenstände. Bei Letzteren ist die akustische und haptische Rückmeldung für die Qualitätsanmutung oft genauso wichtig wie das Design. Geräusche verraten dem Nutzer: Das ist gute oder eben schlechte Qualität. Die Betrachtung des NVH-Designs – das abgestimmte und optimierte Schwingungsund Akustikverhalten bereits im Entwicklungsprozess – ist deshalb essentiell. Natürlich ist das Herstellen der eigentlichen Funktion, z. B. eines Stellantriebs, der erste Schritt. Das Drehmoment muss stimmen, die Zyklenzahl sowie die Geschwindigkeit müssen erreicht werden und die Herstellkosten müssen im Rahmen bleiben. Was aber, wenn diese Funktion nur unter Quietschen und pfeifenden Getrieberädern erreicht wird? Von Funktion zu wahrgenommener Qualität Also ist neben der mechanischen auch die akustische Funktion herzustellen. Akus- tisch optimiert heißt: Mechanische Energie regt eine Komponente zum Schwingen an. Passt die Anregung zu einer Eigenschwingung, bildet sich die Schwingform aus. Passen Schwingform, Dämpfung, Geometrie und Abstrahlgrad zusammen, wird über diese Fläche Luftschall abgestrahlt. Der NVH-Ingenieur muss nur verhindern, dass eine Schwingform angeregt wird, also bestimmte Frequenzen nicht übertragen werden, oder die mechanische Energie klein genug ist, um nichts übermäßig anzuregen. Damit spaltet sich die Aufgabenstellung: 1. Wie verhält sich die Struktur hinsichtlich Resonanzstellen u. Schallabstrahlung? 2.a. Wie kann die Anregungsenergie so minimiert oder im Frequenzspektrum verteilt werden, dass die in Aufgabe 1 gefundenen kritischen Resonanzen nicht angeregt werden? 2.b. Wie kann auch im späteren Produktionsprozess sichergestellt werden, dass die in 2.a. optimierten Parameter eingehalten werden? Diese akustische Optimierung muss in den Produktentwicklungsprozess eingebettet sein. Wenn erst nach abgeschlossener Entwicklung festgestellt wird, dass das Betriebsgeräusch inakzeptabel ist, beginnt das Troubleshooting mit Iterationsschleifen, die die Projektlaufzeit und -kosten aus dem Ruder laufen lassen. Grundlegende Eigenschaften finden Der Stellantrieb ist eingebaut in eine Struktur, verbunden mit dem Bauteil, dessen Stellung er verändern soll, sowie über Kabel mit anderen Strukturen. Im Fall 1 kommt der klassische Ansatz der Modalanalyse zum Einsatz. Nicht der Stellantrieb regt die Struktur mechanisch an, sondern ein stationäres, künstliches Signal, das alle möglichen Frequenzen enthält (Shaker, Hammer). Die gemessenen Übertragungsfunktionen an verschiedenen Stellen zeigen die Resonanzstellen (die Frequenz) und die Schwingformen (die örtliche Verteilung). Auf Basis der Messungen wäre es möglich vorherzusagen, welche Schallabstrahlung ein bestimmter Betriebszustand unseres Stellantriebs verursacht. Das entsprechende Simulationsmodell muss jedoch genau validiert werden. Diese Validierung ist eine Kalibration gegen den entsprechenden Realtest. Akustische Modelle benötigen viele räumliche Stützstellen und damit viele Mess-punkte zur fundierten Validierung. Um eine hohe räumliche Auflösung zu erreichen, werden scannende Laser-Dopp- 20 INDUSTRIELLE AUTOMATION 3/2016

SENSOR+TEST 2016 ler-Vibrometer eingesetzt, die als optisches Verfahren mit softwaregesteuerten „virtuellen“ Sensoren einen Laserstrahl einsetzen. So sind beliebig viele Messpunkte möglich. Voraussetzung ist allerdings der erwähnte stationäre Zustand der Schwingungsanregung. Das Betriebsverhalten verstehen In Fall 2 a kommt eine Kombination zum Einsatz: Die Eigenschaften der Struktur werden wie in Fall 2 ermittelt. Die dynamischen Eigenschaften unter Betriebsbedingungen erschließen sich nicht direkt. Am Beispiel des Stellantriebs sind die Eigenschaften instationär, die Lasten ändern sich über den Verstellweg und die Erwärmung des Antriebs führt zu einer Veränderung des Schwingungsverlaufs. Damit bedarf das Überprüfen von Vorhersagen durch Simulation anderer messtechnischer Ansätze: Der zeitliche und örtliche Verlauf des Anregungsspektrums muss aufgezeichnet und die kritischen Stellen im Detail untersucht werden. Hier kommt der Ansatz der optischen Multisensorik zum Tragen. Da sich die Eigenschaften des Prüflings ändern, müssen die Messdaten synchron an allen Stellen aufgenommen werden. Als Vertreter einer optischen Multisensoriklösung kommt ein Polytec Multipoint Vibrometer MPV-800 zum Einsatz. Es erlaubt die rückwirkungsfreie Messung der Schwingungen an bis zu 48 Stellen gleichzeitig. Die Schwingdaten werden zusammen mit der aktuellen Drehzahl und weiteren bestimmenden Parametern aufgenommen. Anhand einer Ordnungsanalyse werden kritische Betriebszustände bestimmt, wobei die jeweiligen Betriebsschwingformen diese aufschlussreich visualisieren. Nicht jede Betriebsschwingform mit hohen Amplituden aber führt zur Schallabstrahlung. Deshalb sind parallele Messungen mit Mikro phonen oder Schallintensitätssonden nötig, um das Schallfeld zu charakterisieren und in der Optimierung eine Baseline zu definieren. Damit stehen die Eingangsdaten für eine Antriebsoptimierung zur Verfügung und das Berechnungsmodell kann abgeglichen werden. Die Brücke von Forschung und Entwicklung zur Produktion Die Messdaten haben noch einen weiteren Nutzen: Für die Qualitätskontrolle in der Fertigung des Antriebs sind bereits die kritischen Stellen bekannt, anhand derer ein Zielkorridor für die maximale Oberflächenschnelle an kritischen Punkten festgelegt werden kann. In der Produktion können Montagefehler, Werkzeugfehler oder mangelhafte Zulieferteile dazu führen, dass der Zielkorridor verlassen wird. Qualifizierte Zulieferer etablieren deshalb eine 100 %- Prüfung, die eine Aussage über Chargenqualität und Veränderung der Parameter zulassen und als Steuergrößen in die Produktion mit einfließen. Auch hier sind optische Sensoren auf dem Vormarsch, da sie zwei Eigenschaften in den QS-Prozess einbringen: Reproduzierbarkeit und damit reduzierter Pseudoausschuss sowie Vermeiden von Prüfmittelzustellung und damit Verschleiß. Zur Reproduzierbarkeit: Körperschallsignale an kleinen Bauteilen werden mit dem gleichen Laser-Doppler-Verfahren gemessen, das auch das Multipoint Vibrometer zugrunde legt. Eine Ankopplung entfällt, denn ein oder mehrere Laser prüfen die Testpunkte berührungslos. So entfallen störende Koppelresonanzen Sensor-Prüfling/ Prüfhalterung, die sonst Unsicherheit in den Prozess bringen. Diese Unsicherheit muss aber bei der Festlegung von Parametergrenzen berücksichtigt werden, was dazu führt, dass Teile, die in Ordnung wären, ausgeschleust werden müssen. Dieser Pseu - doausschuss kann mit oben genannten Verfahren verhindert werden. Die Total- Cost-of-Ownership (TCO) der Prüfanlage sinken entsprechend dem vermiedenen Pseudoausschuss. Verbunden mit obigem Kostenvorteil ist auch das Vermeiden der Prüfmittelzustellung. Schwingungen können berührend nur gemessen werden, indem ein Sensor an den Prüfling oder eine Halterung herangefahren und angepresst wird. Die Zustellmechanik verursacht Investitionskosten und regelmäßige Wartung, um den Verschleißvorrat bis zur nächsten geplanten Wartung ausreichend groß zu halten. Mit Laserschwingungsmessung lässt sich dieser TCO-Beitrag vermeiden. Optische Sensoren im QS-Prozess haben den Ruf, mit hohen Kosten verbunden zu sein. Das trifft auf die Investitionskosten sicher zu. Betriebswirtschaftlich sieht das aber anders aus. Werden die TCO betrachtet, stehen vermiedener Pseudoausschuss, vermiedener Verschleiß von kontaktierenden Sensoren sowie eingesparte Wartung mechanischer Verschleißteile auf der Haben-Seite. Fotos: Aufmacher + 01 Polytec, 02 Wilo www.polytec.de 01 Die Multisensorik dient der Charakterisierung instationärer Prozesse, so z.B. von Kleinantrieben 02 Produktiv: Der halbautomatisierte Prüfstand zur 100 %-Kontrolle von Heizungspumpen mit zwei Laservibrometern INDUSTRIELLE AUTOMATION 3/2016 21