SZENE I INTERVIEW 100 Jahre ZVEI – eine Institution im digitalen Wandel LIVE@ Elektroindustrie – eine Branche verändert die Welt – im Gespräch mit Michael Ziesemer Das 100-jährige Jubiläum des ZVEI ist Anlass für uns, die Geschichte, Hintergründe und Perspektiven des Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. näher zu beleuchten. Von der Gründung bis heute gestaltet der Verband nicht nur die Rahmenbedingungen und Plattformen für das Wachstum der Branche im internationalen Wettbewerb, sondern er ist auch Innovationstreiber. Was den ZVEI bewegt und welche Visionen der Verband verfolgt, lesen Sie in unserem Interview. Michael Ziesemer, Präsident des ZVEI Wer sich heute auf ein jahrzehntelanges Bestehen berufen kann, und mit Erfolg viele zukunftsfähige Projekte auf den Weg gebracht hat, darf mit Stolz sagen, einiges richtig gemacht zu haben. Der ZVEI – Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Jubiläum und stimmt uns neugierig, diese beachtliche Entwicklung näher zu betrachten. Der ZVEI wurde am 5. März 1918 in Berlin gegründet, dem damals regionalen Zentrum der deutschen Elektroindustrie. An diesem Tag kamen zehn Industrielle aus dieser Branche zu einer Sitzung zusammen. Auf der Tagesordnung stand der Punkt „gegebenenfalls Gründungsversammlung für den neuzugründenden eingetragenen Verein“. Die Gründung vollzog sich ganz unspektakulär, ohne große Feier, mit der Unterschrift der Teilnehmer unter ein Protokoll. Schon während des Ersten Weltkriegs hatte sich gezeigt, dass die Branche der Elektroindustrie gemeinsame Interessen hatte, um die es aus Mangel an allgemeiner Vertretung bislange schlecht bestellt war. Anders als der Maschinenbau oder die Chemische Industrie hatte die Elektroindustrie bis dahin keinen Branchenverband. Stattdessen existierten viele kleinere Verbände, die untereinander zerstritten waren. Ein besonders scharfer Gegensatz bestand zwischen den Konzernen Siemens und AEG und den mittleren und kleinen Firmen der Elektroindustrie. Dass es gelang, die zerstrittenen Verbände an einen Tisch zu bringen, war vor allem Carl Friedrich von Siemens zu verdanken. Der jüngste Sohn von Werner von Siemens verhandelte jahrelang um das Zustandekommen eines Branchenverbands. An diesem 5. März 1918 hatte er sein Ziel erreicht. Schon der Name des neuen Verbands war eine Botschaft. Als Zentralverband sollte er über den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Elektroindustrie stehen und deren gemeinsame Interessen vertreten. Seit dem sind nun 100 Jahre vergangen, in denen der ZVEI vieles bewegt, initiiert und verändert hat. Was den Verband so erfolgreich macht, welche Visionen er hegt und welch spannende Zukunftsthemen die Branche erwartet, darüber spricht Nicole Steinicke mit Michael Ziesemer, Präsident des ZVEI. Dipl.-Ing. Nicole Steinicke, Stell. Chefredakteurin, INDUSTRIELLE AUTOMATION 8 INDUSTRIELLE AUTOMATION 1/2018
INTERVIEW I SZENE Herr Ziesemer, der ZVEI hat in vielen Jahrzehnten einiges auf den Weg gebracht. Welche Innovationen aus der Branche der Elektroindustrie haben uns Menschen und die Welt am stärksten verändert? In den vergangenen 100 Jahren hat sich das Leben der Menschen in nahezu allen Bereichen stark verändert und die Elektroindustrie hat dazu maßgeblich beigetragen. Ab den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts setzen sich Kühl- und Gefriergeräte durch, ab den vierziger Jahren dann auch Waschmaschinen. Das Leben der Menschen ist dadurch enorm erleichtert worden. Viele weitere Innovationen folgten, die wir heute nicht mehr missen möchten. Blicken wir retrospektiv auf die vergangenen 100 Jahre, können wir auch von einer Elektrifizierung der Welt sprechen. Strom ist unser wichtigster Energieträger und wird es auch bleiben – dank der erneuerbaren Energien sogar klima - neutral. Das ist eine Riesen-Innovation. Ohne solchen technischen Fortschritt ließen sich die weltweiten Klimaziele nicht umsetzen. Die Elektroindustrie leistet somit einen wichtigen Beitrag, eine der drängendsten Herausforderungen anzunehmen. Aber ich denke auch an die deutsche Industrie: Sie rüstet die Fabriken und Anlagen der Welt aus. Nichts hat mehr Arbeitsplätze hierzulande geschaffen. Wo wären wir ohne Steuerungen, Sensoren und Messgeräte, Antriebstechnik, Schaltgeräte und Übertragungstechnik der deutschen Elektroindustrie? Wenn Sie mich persönlich fragen, dann sind es Radio, Fernseher und Telefon, ohne die ich heute nicht mehr auskomme. Mit diesen Innovationen bin ich aufgewachsen. Das Smartphone ist nicht nur fürs Telefonieren und die E-Mail- Korrespondenz unverzichtbar, sondern stellt auch das gesamte Internetwissen bereit. Der ZVEI setzt sich für die gemeinsamen Interessen von Unternehmen der Elektrotechnik- und Elektronikindustrie in Deutschland und auf internationaler Ebene ein. Wo sehen Sie gerade im Hinblick auf die aktuell schwierige politische Lage in Deutschland, aber auch global betrachtet Hürden und Wachstumshemmnisse der Branche? Der Fachkräftemangel stellt die große Herausforderung der Zukunft dar. Die Elektroindustrie beschäftigt in Deutschland über 868 000 überwiegend hochqualifizierte Menschen: 190 000 Ingenieure plus weitere 570 000 Fachkräfte, davon rund 50 000 Software-Entwickler. Solche Quali fikationen sind stark nachgefragt und auf dem Arbeitsmarkt kaum noch zu finden. Unsere Unternehmen spiegeln uns wieder, dass es immer länger dauert, bis eine Stelle besetzt werden kann. Vier von fünf Mitgliedsunternehmen sagen, dass sie beispielsweise Schwierigkeiten haben, Software-Entwickler auf dem Arbeitsmarkt anzuwerben. Bei manchen Stellenprofilen herrscht Vollbeschäftigung. So erfreulich das ist, der Fachkräftemangel wird mehr und mehr ein Wachstums-limitierender Faktor. Der Fachkräftemangel ist aktuell das größte Produktionshemmnis, vergleichbar mit den Boom-Jahren vor der Finanzkrise. Der Fachkräftemangel wird uns in Deutschland noch über viele Jahre fordern. Der Staat muss jetzt mehr in die Zukunft und damit in Bildung, Forschung und Infrastruktur investieren. Was uns global betrachtet in Atem hält, ist die Zukunft des Freihandels bzw. der aufkommende Protektionismus. Maschinenbau und Elektroindustrie sind die Fabrikausrüster der Welt. China, die USA, wohin Sie schauen: Überall finden sich die Produkte unserer Unternehmen. Ohne unsere Sensoren, Aktoren, Embedded Systems, Antriebe, ohne unsere Maschinen täte sich beispielsweise das Verarbeitende Gewerbe in den USA deutlich schwerer. Das wird auch Präsident Trump noch erkennen, will er tatsächlich den industriellen Kern der Vereinigten Staaten stärken. Das werden ihm unter anderem auch unsere Kollegen vom Industrial Internet Consortium (IIC) verdeutlichen müssen: Digitale Wertschöpfungsnetzwerke sind ein Der ZVEI steht heute mit rund 1 600 Mitgliedsunternehmen für die zweitgrößte und innovativste Branche Deutschlands. Die Elektroindustrie hat viele Entwicklungen auf den Markt gebracht, die unser Leben maßgeblich verändert haben. Auch die Industrie wäre heute nicht so erfolgreich, wenn es die Elektrotechnik nicht gäbe. Sie ist Innovationstreiber und liefert die Basis für zukünftige Konzepte im Zeitalter des digitalen Wandels. Blicken wir auf aktuelle Projekte, wie das autonome Fahren, die nächste Mobilfunkgeneration 5G, neue Ansätze einer modularen Produktion oder Machine Learning – so dürfen wir durchaus gespannt sein, welche Innovationen uns in Zukunft erwarten. Nicole Steinicke, INDUSTRIELLE AUTOMATION globales, welt-umspannendes Phänomen. Ihr Potenzial entfalten sie nicht, wenn man versucht, sie lokal abzuschotten. Einer der 22 Fachverbände des ZVEI mit mehr als 330 Mitgliedsunternehmen (2015) bildet der ZVEI-Fachverband Automation. Welche Kernthemen stehen hier aktuell im Fokus und wo sehen Sie Handlungsbedarf in Politik und Öffentlichkeit? Wir müssen die Industrie-Anforderungen jetzt in die 5G-Standardisierung einbringen. Die Technologie ist nicht nur der Standard für die fünfte Mobilfunkgeneration, sondern beschleunigt auch die Entwicklung in Richtung Industrie 4.0. Durch 5G-Technologie wird es möglich, in Fabriken komplett neue Systemansätze und Lösungen einzuführen. Deshalb setzt sich der ZVEI schon heute intensiv mit dem Thema auseinander. Im Verband wurde dafür Anfang 2017 die „Task Force 5G“ gegründet, die aktuell zur „5G Alliance for Connected Industries and Automation (5G-ACIA)“ erweitert wird. Mit 5G-ACIA bringen wir die Interessen der Industrie in den Standardisierungsprozess ein, um 5G industriefähig zu gestalten. In unserem Jubiläumsjahr 2018 ist der ZVEI weiter einer der zentralen Akteure bei Industrie 4.0 in Deutschland. Damit Industrie 4.0 funktionieren kann, braucht es eine für industrielle Anwendungen geeignete Infrastruktur. Dazu gehört nicht nur die industriefähige Gestaltung von 5G. Industrie 4.0 benötigt sichere, zuverlässige und schnelle Breitbandverbindungen, insbesondere auch in ländlichen Regionen, in denen 70 % der Industriebeschäftigten arbeiten. Der ZVEI fordert deshalb, dass Gewerbegebiete im ländlichen Raum schnell an leistungsfähige Breitbandverbindungen angebunden werden. Handlungsbedarf sehen wir auch bei der deutschen Innovationspolitik: Um unseren Wettbewerbsvorsprung dauerhaft zu INDUSTRIELLE AUTOMATION 1/2018 9
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