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Industrielle Automation 3/2016

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Industrielle Automation 3/2016

SENSORIK UND MESSTECHNIK

SENSORIK UND MESSTECHNIK Stark unterkühlt, aber hochpräzise Coriolis-Durchflussmesstechnik hält Extremtemperaturen stand Alexander Marzahn Beim Abfüllen von reinem Flüssiggas bei dem Unternehmen PanGas in der Schweiz herrschen Extremtemperaturen von rund - 180 °C. Eine mess- technische Herausforderung, der nur ein Unternehmen gewachsen war. Lesen Sie, wie ein Entwicklerteam diese Aufgabe mit maßgeschneiderter Coriolis-Durchflussmesstechnik gemeistert hat. Mithilfe der Tieftemperaturtechnik, der sogenannten Kryogenik, lassen sich technische Gase für viele Anwendungen aus den Bereichen Life Sciences, Chemie, Umwelt- und Lebensmittelindustrie herstellen. So sorgen z. B. eiskalte Helfer wie Stickstoff, Sauerstoff oder Argon als Schutzgas beim Schweißen und Schneiden für Sicherheit, machen Lebensmittel haltbar oder versorgen Patienten mit Atemluft. Mitunter sorgen sie auch für Gänsehaut, wenn das Phantom der Oper aus wabernden Nebelschwaden steigt. Ein führender Anbieter von technischen Gasen in der Schweiz ist PanGas, Tochter der globalen Linde Group. In dem im Jahr 2010 errichteten Werk in Muttenz bei Basel werden die drei erwähnten Hauptbestandteile der Luft in hochreiner Form gewonnen. „Die Anlage ist eigentlich ein riesiger Kühlschrank. Wir saugen die Luft an, komprimieren diese und transportieren Wärme ab, bis die Luft flüssig wird und wir Alexander Marzahn, Manager Corporate Publishing, Endress+Hauser, CH-Reinach die Gase mittels Destillation trennen können“, erklärt Wolfgang Eichner, Leiter Supply Operations von PanGas. „Vereinfacht gesagt: Wir nehmen Luft, verpacken sie in kleine Einheiten und verkaufen sie weiter.“ Kraftakt: 500 Tonnen flüssige Gase pro Tag 02 Die moderne Luftzerlegungsanlage des Werkes von PanGas mit den beiden Trennsäulen (links) und den Lagertanks (rechts) Der Rohstoff ist zwar kostenlos, doch die Abkühlung auf - 180 °C in der Luftzerlegungsanlage in Muttenz ist ein physikalischer Kraftakt. Wer eine Ahnung hat, wie viel Strom seine Tiefkühltruhe zur Erzeugung von ein paar Minusgraden verschlingt, kann sich vorstellen, wie viel Energie vonnöten ist, um auf diese Weise pro Tag 500 t flüssige Gase zu produzieren. Die so genannte Tieftemperatur-Rektifikation erfolgt in fast 40 m hohen Trennsäulen, wobei bei der Destillation die unterschiedlichen Siede-punkte der drei Gase ausgenutzt werden. Nach der Trennung werden die frostigen Flüssigkeiten in mächtigen Drucklagertanks gelagert, von denen aus die Tanklastwagen direkt befüllt werden. Da sich Flüssiggas nur mit Verlust lagern und transportieren lässt, produziert Linde in einem dichten Vertriebsnetz europaweit möglichst nah beim Kunden. „Man kann das mit kochendem Wasser vergleichen“, erklärt WolfangEichner. „Das Produkt verdampft fort während. Pro Tag lösen sich etwa 1,4 Prozent buchstäblich in Luft auf.“ 44 INDUSTRIELLE AUTOMATION 3/2016

01 Es ist eine der weltweit besten Produktions-Kalibrieranlagen, auf der Endress+Hauser seine Coriolis-Durchfluss-Messgeräte mit einer Genaugigkeit von ± 0,015 % prüft Durchhaltevermögen ist auch an der Füllstation gefragt: Was bei Normaltemperaturen Routine wäre, ist aufgrund der kritischen Kälte des Mediums eine echte Herausforderung. Alle technischen Teile wie Ventile, Gasabscheider, Auslassvorrichtung sind vakuumisoliert. „Besonders schwierig war es, ein Messgerät zu finden, das robust genug ist, dieser Kälte zu widerstehen“, erklärt Beat Bättig, Anlagen-Operator von PanGas in Muttenz. Neben der extremen Beanspruchung des Materials – das eisige Medium lässt Kunststoffe binnen Stunden spröde werden – muss das Gerät vor allem auch konstante Druckbedingungen garantieren. „Dehnen sich die Gasmoleküle nur wenig aus, erwärmt sich das Medium und Hinsichtlich der Verlässlichkeit sind die Durchfluss-Messstellen von Endress+Hauser unschlagbar. Sie halten selbst extremen Temperaturschwankungen ohne Fehlfunktion stand. Wolfgang Eichner, Leiter Supply Operations, PanGas AG, CH-Muttenz die Flüssigkeit wird wieder zu Gas“, erklärt Patrick Rotzler, Produktmanager Durchfluss von Endress+Hauser. „Ein Gemisch aus gasförmigen und flüssigen Teilen wäre Gift für eine verlässliche Messung.“ Keine Angst vor dem Kälteschock Konventionelle Messgeräte kapitulieren schon nach wenigen Minuten und sind nicht im Stande, die Dichte des inhomogenen Mediums zu bestimmen. Für diese Spezialanwendung gab es also kein Gerät aus der Schublade. So wendete sich Pan- Gas an die Durchfluss-Spezialisten von Endress+Hauser, mit denen man in einem früheren Projekt gute Erfahrungen gemacht hatte. In einem mehrstufigen Testverfahren mit PanGas entwickelte Endress+Hauser darum ein Coriolis-Massedurchfluss-Gerät (Promass F) derart weiter, dass es der klirrenden Kälte zu trotzen und die fatalen Druckschwankungen zu verhindern vermochte. Ein spezieller Niedertemperaturaufbau brachte die sensible Elektronik auf sichere Distanz zum tiefkalten Medium, und im Sensor selbst wurde statt Stickstoff das Edelgas Helium verwendet, das sich auch bei -180 °C nicht verflüssigt. Durch weitere, teils unkonventionelle Anpassun- gen schafften es die Ingenieure, die Messbedingungen so zu kontrollieren, dass der Gasvolumenanteil eine kritische Grenze nicht übersteigt. „Hinsichtlich der Verlässlichkeit sind diese Durchfluss-Messstellen von Endress+Hauser unschlagbar“, sagt Wolfgang Eichner. „Selbst extreme Temperaturschwankungen haben keine Fehlfunktionen zur Folge.“ Alles unter Kontrolle „Coriolis-Durchfluss-Messgeräte sind erste Wahl, wenn es darum geht, Flüssigkeiten oder Gase mit höchstmöglicher Genauigkeit zu erfassen“, sagt Oliver Seifert, Gas- Spezialist von Endress+Hauser. Die Messabweichung betrage maximal ± 0,35 %. „Ein unglaublicher Wert, wenn man bedenkt, dass selbst nationale metrologische Institute nur wenig besser kalibrieren können.“ Um diese Präzision nachhaltig sicherzustellen, lässt PanGas die Geräte alle zwei Jahre von Endress+Hauser vor Ort überprüfen und mit rückführba - ren Nachweisen entsprechend dokumentieren. Automatisierte Abfüllung via Fernsteuerung Das Prozessleitsystem wird aus einer Zentrale in Deutschland ferngesteuert. „Wir verlassen uns also ganz auf Automatisierungstechnik“, sagt Wolfgang Eichner. „Vor Ort stellen drei Mitarbeiter die Wartung und Kontrolle sicher.“ Auch bei der Abfüllung wird jeder Schritt registriert. Die leeren Tanklastzüge werden bei der Einfahrt gewogen, sodass der Computer das Ladevolumen berechnen kann. Wird dieser Wert erreicht, wird der Vorgang automatisch Welches Gas wird wofür verwendet? 03 Beim Abfüllen von reinem Flüssiggas bei PanGas in der Schweiz herrschen Extremtemperaturen von rund -180 °C beendet. Wenn ein Parameter nicht mehr stimmt, z. B. ein Tank zu voll ist oder zu starke Vibration registriert wird, geht das System automatisch in einen sicheren Zustand über. „Wir könnten unsere Computer herunterfahren, und die Anlage würde trotzdem sicher weiterlaufen“, erklärt Beat Bättig. Die Messtechnik in der Abfüllanlage hat jedoch noch nie zu einer Abschaltung geführt. „Manchmal machen wir Stichproben und gleichen die Messungen ab“, verrät Beat Bättig. „Doch die Werte waren bisher stets identisch.“ www.de.endress.com Stickstoff (78 % der Luft) wird in der Chemie- und Pharmaindustrie als Schutzgas zur Inertisierung und zum Kühlen verwendet, in der Lebensmittelindustrie zum Schockgefrieren und Verpacken unter „modifizierter Atmosphäre“ und in der Industrie zum Gefrieren von Böden und Reinigen von Leitungen. Sauerstoff (21 % der Luft) findet in der Medizin seinen Einsatz sowie in der Industrie, zum Beispiel zum Schweißen und Schneiden von Metallen oder auch in der Life Science- Industrie zur Herstellung von Arzneimitteln. Argon (0,9 % der Luft) ist wichtiges Schutzgas für hochwertige Materialien, kommt in der Lebensmittelindustrie beim Abfüllen von Wein und Verpacken von sauerstoffempfindlichen Produkten zum Einsatz und in der Pharmaindustrie zum Überlagern von hochwertigen Produkten. INDUSTRIELLE AUTOMATION 3/2016 45